Mitscherlich stellte fest, dass bei der Machtübernahme durch einen Massenführer, in diesem Fall Hitler, dieser an die Stelle des Ich-Ideals jedes Einzelnen tritt. Indem man dem Führer folgt und ihn verehrt, verwirklicht man ein Stück des fantasierten Ich-Ideals und somit werden der Führer und seine Bedeutung zu einem Teil der der Person.
Allerdings muss der Führer folgende Voraussetzung erfüllen, damit obiges eintritt: Er muss die Begabung haben, aus der Notlage getroffene Idealvorstellungen seiner Anhänger anzusprechen und ihnen Abhilfe zu versprechen. Dadurch lässt er seine Kraft erkennen und stellt Forderungen an die Masse, welche sie in einen Gewissenskonflikt zwischen dem alten Gewissen und dem fetischhaft geschmeichelten Ich-Ideal geraten lassen. Hierbei wird das alte Gewissen dem neuen faszinierenden Aufgaben geopfert. Dies wird die "Umkehrung" des Gewissens genannt.
Die Menschen haben also den Führer an die Stelle des eigenen Ich-Ideals gesetzt und fühlen sich brüderlich vereinigt, da sie sich aufgrund eines gemeinsamen, mit Leidenschaft gehaltenen Ich-Ideals miteinander identifizieren können. Wiederum sind alle mit dem Führer identifiziert.
Zwar ist somit die Rivalität in der eigenen Gruppe stark gemindert, doch werden die angestauten Aggressionen an Fremdgrupppen, welche die Idealbildung nicht mitmachen, ausgelassen.
Von den Menschen wurde verlangt, auf bewusste Kritik zu verzichten, um die Ideologie Hitlers zu akzeptieren. Durch das Hörigkeitsverhältnis, das Verhältnis eines hohen Grades von Unfreiheit, entwickelten sie ein falsches Bewusstsein. Dieses wird als ein Selbstgefühl und als ein Gefühl der Befreiung erlebt. Um ein neues Selbstgefühl zu erlangen, erniedrigen sich die Massen vor der Führerfigur. Das Hörigkeitsgefühl wird also zur Obsession, welche wiederum zum Ideal wird.
Hitler erlangte die Liebe der Massen durch Ausnutzung: die Ermunterung an das frustrierte, enttäuschte Ich. Nur so waren sie fähig, die größten Strapazen zu ertragen. Dies steigerte wiederum die Selbstachtung.
Nach dem Krieg sahen die Soldaten ihre Leistung als rühmenswert an und verdrängten die Wahrheit. Hitler zu wählen basierte also auf der narzisstischen Grundlage der Selbstliebe. Alles, was er befahl, wurde zum Gesetz.
Diese Verarmung des Ich und der Verlust der Möglichkeit, sich vom Liebesobjekt zu distanzieren, wird die hörige Liebe genannt. Neben ihr existiert auch die reifere Liebe, wobei die kritische Funktion des Ich aufrecht erhalten wird. Die Liebenden identifizieren sich nur zum Teil mit dem Liebesobjekt. Das Ich wird also um bestimmte Eigenschaften bereichert und verändert sich zum Teil nach seinem Vorbild.
Der Tod des Führers brachte für die Massen, die sein Schicksal teilten, eine Entblößung von Schutz. Mit diesem Zusammenbruch des Ich-Ideals hörte die gegenseitige Identifizierung im Führerglauben auf und es wurde ein kurzfristiges Schamgefühl ausgelöst. Anschließend verdrehten die ehemaligen Anhänger des Führers die Wirklichkeit, um ihr eigenes Ich und Selbstgefühl vor Entwertung zu schützen.
Sophie Brockmeier
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